Aus den Schätzen des Evangelisch-Lutherischen Kirchenarchivs Augsburg: Archivalie des Monats | Oktober 2021
Bedingt durch den Konkurrenzkampf zwischen den Konfessionen kam es in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts zu einem enormen Bildungsschub. Die Anfänge des evangelischen Kollegs bei St. Anna stehen im direkten Zusammenhang mit dem Bau des Jesuitenkollegs St. Salvator. Am 2. Mai 1580 hatte der von Katholiken dominierte Rat dem Orden die Genehmigung zur Errichtung einer weiterführenden Schule gegeben. Im Gegensatz zum Gymnasium bei St. Anna (1531 gegründet) verlangten die Jesuiten kein Schulgeld, ein verlockendes Angebot, das auch von mittellosen evangelischen Eltern gerne angenommen wurde. Daraufhin suchten einige engagierte Augsburger Protestanten Mittel und Räumlichkeiten, um diese Lücke im eigenen Bildungswesen dauerhaft zu schließen.
Zehn Freiplätze für Stipendiaten
Zu den Initiatoren des Evangelischen Kollegs zählen die Kaufleute Nicolaus Pemer (1528–1610), Johann Baptist Haintzel (1524–1581), Martin Zobel (1530–1584) sowie der Prediger von St. Anna, Dr. Georg Miller/Mylius (1548–1607). Mit Hilfe eines Strohmanns gelang es, das Anwesen des verstorbenen Christoph Fugger (1520–1579) in der Annagasse (heute Annastraße 14, ehem. Woolworth) zu erwerben. Am 16. März 1581 erkannte der Rat die Stiftung an. Die Einweihung des Neubaus fand am 3. Dezember 1582 mit 32 Kollegiaten statt. Sie besuchten das nahe gelegene Gymnasium bei St. Anna und erhielten zusätzlich noch Unterricht im Kolleg. In der reichsstädtischen Zeit bot das Internat insgesamt zehn Freiplätze für Stipendiaten, die auch mit Kleidung, Bettwäsche und Schreibmaterialien versorgt wurden, weitere 22 Kollegiaten (Convictores) entrichteten Schulgeld.
Unter den Schülern schrieben einige ihrerseits Bildungsgeschichte, so der Mathematiker, Astronom und Kartograph Johann Matthias Haas/Hase (1684–1742), der als Professor in Wittenberg Karriere machte, oder der Theologe und Philosophiehistoriker Jakob Brucker (1696–1770), u.a. Mitglied der königlichen Wissenschaften zu Berlin und zuletzt Pfarrer von Hl. Kreuz. Die lokale Karriereleiter erklommen z.B. Philipp David Kräuter (1690–1741), seit 1720 „Director musices“ der evangelischen Kirchenmusik, und Marx Christoph Koch von Gailenbach (1699–1768), Stadtpfleger von 1751 bis 1768.
Als im Dreißigjährigen Krieg 1635 alle evangelischen Kirchen versperrt wurden, bot allein der Innenhof des Kollegs Raum für Gottesdienste und Abendmahlsfeiern
Philipp Weber (1588–1652) und Paulus Jenisch (1602–1648) hielten 14 lange Jahre als Prediger die Stellung, während Peter Meiderlin (1582–1651), der Leiter (Ephorus) des Kollegs, mit einigen Lehrern zusätzlich auch noch den auf vier Klassen reduzierten Schulbetrieb des Gymnasiums bei St. Anna im Kolleg möglich machte. Die Erfahrung von harter Unterdrückung, Widerstand und Beharrungsvermögen bildete fortan das Herzstück der evangelischen Erinnerungskultur in Augsburg und der Kupferstich von Raphael Custos (um 1591–1664), der die dicht gedrängten Gläubigen, umrahmt von den Gebäuden des Kollegs zeigte, wurde zur „zeitgenössischen Ikone“. Erst mit der Umsetzung der für Augsburg relevanten Artikel des Westfälischen Friedens normalisierten sich die Verhältnisse im Laufe des Jahres 1649.
Im ausgehenden 18. Jahrhundert schickten immer weniger Eltern ihre Söhne auf das Kolleg, 1804 schloss man die Einrichtung und die Gelder der Stiftung wurden nur noch für Universitätsstipendien verwendet. In die leeren Gebäude zogen die Realschulinstitute und die lateinische Vorbereitungsschule bei St. Anna ein; die stattliche Bibliothek mit 15 000 Bänden wurde 1811 mit der Augsburger Stadtbibliothek vereinigt.
Das zweite Kapitel in der Geschichte des Kollegs begann mit zwei königlichen Reskripten vom 22. Oktober 1827 und 10. April 1828
Demnach sollte das Internat wieder eröffnet werden, 18 zahlende Schüler aufnehmen und weitere 12 auf Kosten der Stiftung versorgen. Verpflichtend war der Besuch des Gymnasiums bei St. Anna, ein anschließendes Theologiestudium laut Satzung erwünscht. In den folgenden Jahrzehnten lernten und lebten auch viele auswärtige Schüler in der Annastraße 14, sie kamen u.a. aus den ehemaligen Reichsstädten Lindau, Memmingen und Kaufbeuren; seit 1834 waren außerdem zwei Freiplätze für Knaben aus München reserviert. Die Einrichtung erfreute sich großer Beliebtheit, doch die Inflation 1923 ließ das Stiftungsvermögen dramatisch schrumpfen. Nur dank großzügiger Spenden konnte der Internatsbetrieb, der sich mittlerweile auf über 80 Plätze nebst einigen wenigen Freistellen erweitert hatte, aufrechterhalten werden.
Beim großen Bombenangriff auf Augsburg in der Nacht vom 25./26. Februar 1944 wurde das Anwesen völlig zerstört
Die Wiedereröffnung am 17. Februar 1946 fand in dem von den Gewerkschaften angemieteten Karl-Hübsch-Haus in Biburg statt, zum Unterricht pendelten die Schüler mit dem Zug nach Augsburg. 1950 kehrte man nochmals für kurze Zeit in das notdürftig wiederaufgebaute Anwesen zurück, um dann 1956 einen Neubau in der Hl. Kreuzstraße für 52 Heim- und 35 Tageskinder zu beziehen; auch die enge Verbindung zum Gymnasium bei St. Anna bestand nicht mehr, die Kinder verteilten sich auf sämtliche Augsburger Schulen.
Das Anna Kolleg heute
Mit dem Ortswechsel in die Lange Gasse 11 im Jahr 1987 suchte man nicht nur die räumliche Nähe, sondern auch den organisatorischen Anschluss an das Anna Barbara von Stettensche Internat. Heute ist das Annakolleg eine koedukative, überkonfessionelle, sozialpädagogische Einrichtung mit einem angeschlossenen Hort. Es ist Mitglied der Evangelischen Schulstiftung in Bayern und gilt als das älteste evangelische Internat Bayerns.
(Text: Dr. Barbara Rajkay, erschienen in Heidrun Lange-Krach (Hg.), Stiften gehen. Wie man aus Not eine Tugend macht. (Katalog zur gleichnamigen Ausstellung im Maximilianmuseum vom 28. August bis 28. November 2021), Regensburg 2021, S. 186-189)
Literatur:
- Albrecht 1982 | Albrecht, Wilfried, 400 Jahre Protestantisches Kollegium bei St. Anna, in: Anna-Kolleg Augsburg (Hg.), Festschrift zum 400jährigen Bestehen des Protestantischen Kollegiums von St. Anna in Augsburg, Augsburg 1982, S. 14–40.
- Bauer 1908 | Bauer, Ludwig, Die Errichtung des Kollegiums bei St. Anna in Augsburg 1580–1582; Programm zu dem Jahresberichte des k.h. Gymnasiums bei St. Anna in Augsburg für das Schuljahr 1907/08, Augsburg 1908.
- Behler 1998 | Behler, Ursula, Eine unbeachtete Biographie Jacob Bruckers, in: Jacob Brucker (1696–1770). Philosoph und Historiker der europäischen Aufklärung, hg. von Wilhelm Schmidt-Biggemann und Theo Stammen, Berlin 1998, S. 19–73.
- Degmair 1768 | Degmair, Matthäus Friedrich, Ehrendenkmahl dem Wohlgebohrnen Herrn, Herrn Marx Christoph Koch von Gailenbach weil. Kayserl. Königl. Majestät Francisci des Ersten glorwürdigster Gedächtniß nachgelassenen [...] Rath, des Heil. Röm. Reichs freyen Stadt Augsburg höchstverdienten Pfleger und Reichslandvogt hochsel. Angedenkens, zum unvergeßlichen Gedächtnisse Seines den 14. Tag des Jänners 1768 unvermuthet erfolten Hinganges aus dieser Welt aufgerichtet, Augsburg 1768.
- Freudenberger 2005 | Freudenberger, Rudolf, Das Evangelische Gymnasium und das Evangelische Kolleg bei St. Anna in der Zeit des Dreißigjährigen Krieges, in: Das Gymnasium bei St. Anna in Augsburg, hg. von Karl-August Keil im Auftrag der Societas Annensis zum 475. Jubiläum des Gymnasiums und zum 80. Jubiläum der Societas Annensis, S. 53–72.
- Grünsteudel 2013 | Cantate Domino canticum novum. Zur Geschichte der Musikpflege bei St. Anna, in: St. Anna in Augsburg. Eine Kirche und ihre Gemeinde, hg. von Rolf Kießling, Augsburg 2013, S. 489–536.Kießling 2013 | Rolf Kießling, St. Anna im Dreißigjährigen Krieg: die Geburt eines Traumas, in: St. Anna in Augsburg. Eine Kirche und ihre Gemeinde, hg. von Rolf Kießling, Augsburg 2013, S. 239–269.
- Schnelbögl 1969 | Schnelbögl, Fritz, "Hase, Johann Matthias" in: Neue Deutsche Biographie 8 (1969), S. 21.
- Wagner 1835 | Wagner, Lorenz Heinrich, Nachrichten von der Wiederherstellung und gegenwärtigen Einrichtung des Evangelischen Collegiums zu St. Anna in Augsburg als Erziehungs- und Bildungsanstalt für Knaben und Jünglinge, Augsburg 1835
Im Interview für Radio rt1 berichtet Geschaftsführer Ralf Gallep über das Annakolleg einst und heute